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Die Anforderungen eines normalen Arbeitsplatzes sind zu groß, und in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung fühlen sie sich auch nicht am richtigen Platz – Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind besondere Menschen. Bei uns werden die Herausforderungen der Arbeitswelt auf ihre Fähigkeiten zugeschnitten – im wahrsten Sinne.
Wie alles begann
Manchmal muss man einfach machen. Das weiß Sigrid Regensberger genau. Ihre Tochter Julia ist Grenzgängerin und gehört damit zu den Menschen, die nicht so recht in ein gängiges Arbeitsmodell integriert werden können. Deshalb nimmt es die engagierte Mutter selbst in die Hand. Mit der Idee, Ponchos für den Weihnachtsmarkt zu nähen, fängt 2015 alles an. Die erste Kollektion entsteht in einem gerade einmal 40 Quadratmeter großen Nähatelier in der Brunecker Oberstadt, auf dessen Scheibe zur Straße hin in weißen Lettern steht: VergissMeinNicht. Manchmal fangen Erfolgsgeschichten klein an…
Sigrid Regensberger (Initiatorin)
Sigrid, ohne dich gäbe es Vergissmeinnicht nicht…
… nein, ohne Julia gäbe es uns nicht. Bevor unsere Tochter zur Welt kam, hätte ich mir nie vorstellen können, was es heißt, ein Grenzgängerkind zu haben. Wie alle Eltern es für ihr Kind tun, haben wir uns für ihr Wohl eingesetzt. In der Schulzeit war sie gut inkludiert. Aber dann kam das letzte Schuljahr und Julia fiel in ein Loch.
Was hat sie so bedrückt?
Julia ist ein sehr feinfühliger Mensch. Sie hat gemerkt, dass ihre Klassenkameraden nun zum Studieren gehen oder eine Arbeit haben – nur sie würde das unter den gegebenen Umständen nicht können. Das war eine schlimme Zeit. Ich hatte mich da schon überall informiert und umgesehen, welche Projekte es für Menschen wie sie gibt. Am Ende kam ich zum Schluss, dass ich selbst etwas machen muss. Eine Freundin brachte mich auf die Idee, eine Nähstube zu eröffnen. Unser erstes Produkt: der Poncho.
Ein schwieriger Start?
Bis es so weit war, sind viele Zettel im Papierkorb gelandet. Der Erfolg unseres Produkts hat uns selbst überrascht. Die Menschen haben über uns geredet, in jederlei Hinsicht. Viele meinten, dass wir zur Gänze durch öffentliche Gelder und Spenden finanziert würden. Aber das stimmt so nicht. 89 Prozent unseres Umsatzes generieren wir mittlerweile selbst. Der Rest ist die Unterstützung, die wir für unsere Grenzgängerinnen und Grenzgänger von der öffentlichen Hand und von privaten Sponsoren bekommen.
Was heißt es, ein Grenzgänger zu sein?
Grenzgänger sein bedeutet, nirgendwo richtig dazuzugehören. Am normalen Arbeitsplatz nicht integriert werden zu können, weil die Herausforderungen zu groß sind. Und in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung das Gefühl zu haben, auch nicht am richtigen Platz zu sein. Wir sagen immer, das Vergissmeinnicht ist ein Ort für die Menschen dazwischen. Jene, die man vergessen hat – daher auch der Name.
Was sind die Reaktionen der Leute?
Wir haben keine Kunden, wir haben Fans. Und das ist großartig. Viele kaufen immer wieder bei uns ein. Sie lieben unsere Produkte, nicht nur wegen ihrer Qualität, sondern auch, weil es individuelle Stücke sind. Sicher spielt auch mit hinein, dass sie diese mit dem Bewusstsein kaufen, besonderen Menschen im Leben eine Chance zu geben. Aber es ist auch wegen der Qualität.
Was zeichnet die Produkte noch aus?
Niemand ist perfekt. Es gibt die ganze Palette an Größen zur Auswahl. Passt ein Stück nicht, wird es geändert. So einfach ist das. Wir machen auch Modelle für Menschen mit Beeinträchtigungen, Amputationen oder anderen gesundheitlichen Einschränkungen, die deshalb keine passenden Kleider finden. Auch darin spiegelt sich der soziale Charakter des Projekts wider. Da fließen schon mal Tränen, weil manche es nicht gewohnt sind, dass auch an sie gedacht wird.
Markus Pescoller (Präsident)
Unser Team
Inklusion ist ein großes Wort. Wir leben es. Bei uns nähen, verkaufen, diskutieren und lachen Grenzgängerinnen und Grenzgänger, Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, Frauen, die einen Neustart im Beruf hinlegen wollen und viele freiwillige Helferinnen und Helfer, die uns ihre Zeit und Expertise schenken. Mitten aus dem Leben – mitten im Leben – das sind wir.
Es gibt Tage, da spürt sie so einen Druck im Kopf und kann sich schon am Morgen nicht konzentrieren.
Es gibt Tage, da kann er nicht lange auf gemusterte Stoffe schauen, weil sich alles dreht.
Es gibt Tage, da sind einfach zu viele Menschen im Raum…
Grenzgängerinnen und Grenzgänger begegnen in ihrem Arbeitsleben vielen Herausforderungen wie diesen. Ihnen die nötige Ruhe zu geben, passende Räumlichkeiten zu schaffen und zu schauen, dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird und sie trotzdem gefordert sind, ist nur eine Aufgabe der Sozialgenossenschaft. Sie ist wie ein breites Netz gespannt, zu dem auch die Angestellten gehören. Sie wählen diesen Arbeitsplatz bewusst, weil die Aufgaben so unterschiedlich und spannend sind. Und weil es zufrieden macht, andere beim Wachsen zu unterstützen. Und dann sind da die freiwilligen Helferinnen und Helfer. Ganz unterschiedliche Gründe bringen diese Menschen dazu, Vergissmeinnicht ihre Zeit zu schenken. Manche erlebten selbst Schicksalsschläge, andere wollen etwas zurückgeben, weil sie Glück im Leben hatten. Und alle sagen, dass es ein gutes Gefühl ist, Gemeinschaft zu leben. Bei Vergissmeinnicht bringt jeder das ein, was er am besten kann.